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Behinderung im Alltag

Im Abseits der Gesellschaft

„Kumm wir spün Dradiwaberl“

Dieser Satz hallt noch heute in den Ohren der 67zig jährigen, zu 99 Prozent erblindeten Frau Helene N. Eine Horde Jugendliche packten die fast blinde Frau am Arm und drehten sie so lange im Kreis bis sie vollkommen die Orientierung verloren hatte. An diesem Tag verlor Frau N. nicht nur die Orientierung sondern auch ihre Würde als menschliches Individuum. Und dies unter den Augen einer großen Anzahl von Passanten die es nicht für nötig hielten einzugreifen, mit diesem Verhalten bestärkten sie noch die angreifenden Jugendlichen in ihrem Handeln.

In meinem Gespräch mit Frau Helene N. merkte ich wie sie darunter litt, diese Entwürdigung erlebt zu haben. Ich dachte mir, “Oh mein Gott wo leben, wie tief ist unsere Gesellschaft gesunken, und wie tief wird sie noch sinken“. Wenn schon die Jugend keinen Respekt hat könnte man diese zumindest von den Erwachsenen erwarten. Aber in einer Gesellschafft die aussiebt nach dem Prinzip, „Wer dem Schönheitsideal am Nächsten ist, von guter Gesundheit profitiert oder den Platz an der Sonne mit unlauteren Mitteln ergattert hat, hat auch die Berechtigung zum Leben“, ist das nicht mehr möglich. Eine arrogante, widerwärtige Lebens-Philosophie, die wie die Faust, Behinderten und Kranken entgegen schlägt. Auch vor dem Alter hat man den Respekt vollkommen verloren.

Wie muss es Menschen ergehen die in dieser Welt leben mit schwersten körperlichen Defiziten, von Mutter Natur nicht mit Schönheit gesegnet sind, die bunte Vielfalt des Lebens nur durch einem dicken Schleier wahrnehmen können oder gar nicht sehen, in einer Welt die süchtig nach der Vollkommenheit ist? Es ist eine Schande des menschlichen Individuums über seine Mitmenschen so zu urteilen und ihnen das Leben Absprechen wollen. Sollten wir nicht unsere sozialen Kontakte auch jenen Menschen widmen, die nicht dem Ideal entsprechen? Menschen die zwar nicht makellos sind, aber voll Power und Lebensfreude?

Mit dem Interview der 67-jährigen Frau Helene N., die seit ihrem 39. Lebensjahr beinahe blind, seit einigen Jahren weniger als 1% Sehkraft (Ärztlich attestiert) hat und dennoch ihr Leben mit Bravour und Freude meistert, möchte ich beweisen, dass Leben auch mit einer Behinderung lebenswert ist.

Frau Helene Sie sind seit Ihrem 39. Lebensjahr schwer sehbehindert. Sie leiden am Glaukom, dem grünen Star. Kam die Behinderung plötzlich?

Frau Helene N.: Nein, ich hatte schon seit früher Kindheit an Sehschwäche gelitten. Mir selbst ist es nicht aufgefallen. Ich hatte keinerlei Beschwerden. Es war für mich normal, so zu sehen. In der Schule ist es der Lehrerin aufgefallen. Ich bekam danach zwar Brillen, die dick und unförmig waren und nicht gut aussahen, an das kann ich mich noch gut erinnern, aber weiter hat sich niemand darum gekümmert, ob sie sehstärkengerecht waren oder nicht. Erst mit 39 Jahren, nach immer kehrenden schweren Sehstörungen, wurde das Glaukom festgestellt. (Glaukom wird im Volksmund „Grüne Star“ bezeichnet.) Ein Augenleiden, dass den Sehnerv durch zu hohem Augendruck abdrückt, bis zur völligen Erblindung. Ich selbst sah mich sehr lange nicht als behindert.

Wurden Sie wegen Ihrer sehr dicken und unförmigen Brille von den Mitschülern gehänselt?

Frau Helene N.: Sagen wir so, ich wurde mit der hässlichen Brille noch mehr gehänselt. An meiner Schule war bekannt, dass ich aus sehr ärmlichen Verhältnissen kam. Es war damals schon so, dass es diese Diskriminierungen gab, zumindest an den Wiener Schulen.

Wie ich weiß waren Sie verheiratet, seit 13 Jahren verwitwet, haben ein Sohn und bis vor einigen Jahren noch berufstätig, trotz der starken Sehbehinderung. Wie bestritten, bzw. bestreiten Sie Ihren Alltag?

Frau Helene N.: Ganz normal. Ich habe immer alles selbst erledigt. Die Hilfe anderer habe ich nicht in Anspruch genommen. Auch heute noch versuche ich, so gut es geht, meinen Alltag alleine zu meistern. Ich benötige zwar jetzt eine Putzfrau und bei Behördengängen bin ich seit einiger Zeit auf Hilfe angewiesen, aber sonst bestreite ich meinen Alltag noch immer selbständig.

Sie leben jetzt dennoch seit kurzem in einer Vereinigung des „Betreuten Wohnens“, in einer eigenen kleinen Wohnung. Was hat Sie eigentlich dann bewogen hier her zu ziehen?

Frau Helene N.: Die Gewissheit zu haben, dass jeder Zeit wer erreichbar ist wenn ich jemanden benötige, war der Hauptgrund für den Umzug. Natürlich war die Aussicht hier mehr Kontakte zu anderen Menschen knüpfen zu können auch eine große Motivation, denn ich war vollkommen isoliert von anderen Menschen. Ich hatte zwar eine Betreuerin die auch ab und zu mit mir Spazieren ging, aber Kontakt zu anderen Menschen war kaum vorhanden.

Es ist heute nicht gerade leicht die vielen Neuheiten an Elektro- und moderner Kommunikationsgeräte zu bedienen. Auch das Lesen von Bücher und Zeitungen ist in Ihrem Fall nicht mehr möglich. Wie informieren Sie sich über das alltägliche Leben außer aus dem Radiobereich? Beherrschen Sie die Blindenschrift?

Frau Helene N.: Die Blindenschrift beherrsche ich nicht, aber mein Sohn ist Ingenieur der Elektronentechnik und Informatiker, er hat mir ein Lesegerät entwickelt, sodass ich die Texte nur einlegen muss und mir der genau Wortlaut wiedergegeben wird. Das Festnetz-Telefon wie auch mein Handy wurden von ihm mit großer Tastatur ausgestattet, es ist mir damit möglich problemlos mit meinen Fingern die Tasten richtig zu bedienen. Alle anderen Geräte sind mit der der gleichen Technik ausgestattet.

Ihr Mann ist vor dreizehn Jahren plötzlich verstorben, der Ihnen ja immer eine große Hilfe war und Sie auch nie als behindert ansah. Wie ging es Ihnen danach.

Frau Helen N.: Es war sehr schlimm, aber weniger wegen meiner Behinderung, sondern aus menschlicher Sicht. Mit meiner starken Sehschwäche habe ich mich abgefunden, aber den Verlust meines Mannes habe ich bis heute nicht verkraftet.

Sie haben mir erzählt Ihren letzten Urlaub verbrachten Sie mit Ihren Mann am Nordkap, um einmal den berühmten Nordlichter nahe zu sein. Wie war es für Sie, was fühlten Sie dabei?

Frau Helene N.: Es war ein so einmaliges überwältigendes Gefühl auch ohne zu sehen was sich da oben am Himmel abspielte, aber mein Mann und die vielen Menschen die um mich herum waren, brachten mir in Worten und im Ausdruck Ihrer Gefühle diese Lichter in mein Herz hinein. Ich werde dieses Erlebnis nie vergessen. Die Zusammengehörigkeit von Touristen, Einheimischen und ich die schwerst sehbehinderte Frau mitten unter ihnen war einmalig. Ein Gefühl, dass ich so nicht kannte.

Wie bei jeder Behinderung ist es heute leider so, dass körperlicher Schaden als minderwertig abgestempelt wird. Wie geht die Umwelt mit Ihrer Behinderung um? Haben Sie in Ihrem Bekannten-Kreis Menschen um sich die auch unter einer Behinderung leiden? Wie sieht es allgemein mit dem Freundeskreis aus?

Frau Helene N.: Seit ich hier im „Betreutem Wohnen“ lebe schon. Einen Freundeskreis außerhalb habe ich kaum, bis auf einige wenige bin ich isoliert von der Gesellschaft der Nicht-Behinderten. Ich lebe ich in der Gesellschaft von Behinderten, obwohl ich in der Lage bin allein Spazieren zugehen und auch gehe, aber mein Marken-Zeichen die Blindenschleife und der Blindenstock machen mich nicht gerade attraktiv für ungezwungene Freundschaften. Die meisten Nicht-Behinderten tun es sich nicht an mit einer fast blinden Frau irgendetwas zu unternehmen. Für diese Menschen bin ich ein Klotz am Bein, oder sie wollen die „Verantwortung“ für mich nicht übernehmen. Dabei bin ich „NUR“ schwer sehbehindert und kein Pflegefall! Ich würde gerne mehr Freunde haben die nicht behindert sind. Den kleinen Bekanntenkreis der Nicht-Behinderten den ich habe, nimmt mich so wie bin. Dort kann ich so sein wie ich wirklich bin, lebenslustig, voller Tatendrang und für alle Schönheiten dieser Erde offen. Ich nütze jede Gelegenheit, die sich mir bietet. Ein Urlaub am Meer so wie im Vorjahr kommt zwar selten vor, aber wenn ich dann dort bin mache ich bei allem mit was sich so anbietet.

Sie haben auch viele Hobbies denen sie nachgehen, überhaupt seit Sie hier in dieser Einrichtung wohnen.

Frau Helene N.: Ja, ich habe eine ganze Reihe von Hobbies, Karten spielen, lange Wanderungen, gehe auch liebend gerne schwimmen, treffe mich mit meinen Mitstreiterinnen zu gemeinsame Kaffehaus-Besuchen und versuche so gut es geht alles alleine zu schaffen. Gehe daher auch allein bummeln in die verschiedensten Einkaufszentren. Treffe die Wahl meiner Kleidung selber, wenn nötig schaffe ich es ohne kompetentes Verkaufs-Personal. Ich bin zwar blind, dennoch betrachte ich mich als ein volles Mitglied der Gesellschaft, was so manchen sauer aufstößt.

Sie sehen sich nicht als behindert. Wie sehen es die Behörden die Sie benötigen um das zu bekommen was Ihnen vom Staat Österreich zusteht? Bekommen Sie all die Hilfe die Sie benötigen, oder gibt es einen regelrechten Kampf, um zu Ihrem Recht zu kommen?

Frau Helene N.: Ich habe noch nie Schwierigkeiten von Seiten der Behörden gehabt. Ich bekomme manchmal sogar mehr als ich mir erhofft habe. Ich fühle mich vom Staat Österreich gut versorgt. Allerdings bezieht es sich hier nur um die materiellen Sachen. Mitleid brauche ich keines, Menschlichkeit bekomme ich keinen.

Gibt es Momente wo Sie völlig verzweifeln sind, und wenn ja, wer hilft Ihnen aus dem Tief wieder rau?

Frau Helene N.: Ich bin ein sehr positiver Mensch und nehme das Leben so wie es ist. Manchmal allerdings bin ich schon sehr niedergeschlagen, besonders dann wenn mir mein Augenarzt sagt dass auch das letzte 1 Prozent Sehkraft in Gefahr ist. Oder ich vor einer sehr entscheidenden Augenoperation stehe, wo es abermals um das letzte verbliebene Augenlicht geht. Knapp 1 Prozent Sehkraft ist für die Sehende nichts, für mich bedeuten dieses 1 Prozent Lebensenergie.

Haben Sie gewisse Ängste die nicht Ihre Sehkraft betreffen?

Frau Helene.: Ja! Ich habe sehr große Angst vor Überfällen. Durch mein Blinden-Abzeichen und dem Stock bin ich schon von weiten zu erkennen.

Ich habe gehört, dass sie schon mehrmals Opfer von Überfällen auf offener Straße am hellen Tage geworden sind. Wollen Sie mir darüber was sagen?

Frau Helene N.: Die Handtasche wurde mir schon öfter weggerissen, obwohl ich sie fest an meinen Körper hielt. Jedes mal so heftig, dass ich fast immer in Sturzgefahr war. Einmal wurde die Tasche weggeworfen und von einem Passanten gefunden, so bekam ich zumindest meine Dokumente die ich immer bei mir tragen muss wieder. Der materielle Wert der gestohlenen Geldbörsen ist mir nicht so wichtig. Die Angst setzt mir nach jedem Überfall mehr zu, überhaupt nach der Attacke von drei Jugendlichen die mich packten und so lange in Kreis drehten bis ich vollkommen orientierungslos war. Ich war so verzweifelt, dass ich in Tränen ausgebrochen bin. Das sind dann die Momente wo ich am verzweifeln bin.

Trotz dieser widerlichen Umstände sind Sie ein durch und durch positiver Mensch und können sich für fast alles begeistern.

Frau Helene N.: Meine Lebensmotto ist. „MACH DAS BESTE AUS DEINEM LEBEN“ Der Umzug in das Wohnheim gab mir ein Stück Lebensqualität zurück, die ich jetzt in vollen Zügen genieße.

Wie ich aus Ihren Worten entnehmen kann sind Sie rundum glücklich. Empfinden Sie Ihr Leben, trotz Behinderung lebenswert?

Frau Helene N.: Ja!

Liebe Frau Helene, ich bedanke mich für das Gespräch.

 

 

 

 

 

 


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© Brigitte Hirmann